Der Redakteur | 23.06.2023 Wie kommt die Fußball-Nationalmannschaft aus ihrem Tief?
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23. Juni 2023, 16:42 Uhr
Nachdem unsere Fußball-Nationalmannschaft gegen Kolumbien den nächsten tiefen Tiefpunkt erreicht hat, ist Fußballdeutschland am Boden. Oder einfach nur desinteressiert. Wir haben eine Trainerdiskussion, Rudi Völler will Spieler rauswerfen und Viererkette und ein Neuner sollen die Lösung sein. Es gibt aber Sportpsychologen, die haben ganz andere Probleme ausgemacht.
Es ist immer gut, bei sich selbst anzufangen. In diesem Falle sind das wir Fußballfans. Wir sparen uns Sätze zum Thema "auch in schlechten Zeiten" und fragen Dr. Vanessa Wergin, die sich als weltweit anerkannte Sportpsychologin mit gruppendynamischen Prozessen im Mannschaftssport beschäftigt. Sie forscht aktuell an der University of Queensland in Australien. Ihr Forschungsprojekt dort ist die Untersuchung kollektiver Teameinbrüche.
Warum bricht die eine Mannschaft immer ein - zum Beispiel wenn ein Gegentor fällt - und die andere nicht? Am Ende sollen effektive Präventions- und Interventionsmaßnahmen für das Auftreten von kollektiven Teameinbrüchen entwickelt werden. Australien ist da auch kein zufälliger Ort für solche Forschungen, denn es gibt dort signifikante Unterschiede zur deutschen Trainerausbildung: Die Sportpsychologie spielt eine viel größere Rolle. Auch, dass die Trainer befähigt werden sollen, die Sportler viel breiter auszubilden, als nur zu einem guten Fußballer zu machen.
Mit Vanessa Wergin haben wir das erste Mal gesprochen, als Jogi mit 0:6 gegen Spanien verloren hatte. Das war im November 2020. Sie hat schon damals darauf hingewiesen, dass wir auch mit einem neuen Trainer die alten Probleme haben werden. Weil diese eben tiefer liegen. Sie hat Recht behalten. Und auch wir Fans spielen dabei eine nicht unbedeutende Rolle.
Welche Rolle spielen die Fußballfans?
Wir als Fußballinteressierte können uns zwar nicht direkt zum Europameister machen, aber indirekt. Schon bei der Weltmeisterschaft haben wir gesehen, wozu Mannschaften in der Lage sind, die von ihren Landsleuten förmlich getragen wurden. Wir hingegen schwangen die regenbogenfarbene Moralkeule und die Spieler waren mehr damit beschäftigt, die richtigen Worte zu finden, als die richtigen Laufwege. Auf Schalke gegen Kolumbien gab es deutlich vernehmbare Pfiffe und fröhlich lächelnde (!) "Fans" hielten Hansi-Raus-Zettel in die Kameras.
Dr. Vanessa Wergin empfiehlt, sich einmal in die Lage der Spieler zu versetzen. Wenn man selbst Fehler gemacht hat, brauche man auch nicht 20 Leute, die einem sagen, wie schlecht man ist. Aber genau das passiert seit Jahren mit unseren Nationalspielern, nachzulesen in den sozialen Netzwerken. Das sei auch eine Frage der grundsätzlichen Fehlerkultur in Deutschland, sagt die Sportpsychologin.
In Deutschland wird immer viel auf Fehler geschaut und nachtragend verarbeitet. Das ist auch etwas Kulturelles.
Diese Gesamtstimmung trägt auch mit dazu bei, dass sich die Negativ-Spirale der gruppendynamischen Prozesse innerhalb unserer Mannschaft noch schneller dreht.
Was läuft in der Mannschaft schief?
Es liegt nicht an den fußballerischen Fähigkeiten unserer Spieler. Selbst wenn es da Defizite gibt gegenüber Messi, Neymar, Mbappé und Co. - es waren die gleichen Bayern, die gegen Paris gewonnen und gegen Freiburg verloren haben.
Bayern München hat in der Vorrunde der Champions League alle Spiele gewonnen, den späteren Finalisten Inter Mailand zweimal geschlagen und am Ende das Fußballspielen verlernt. Freiburg und Union kommen ganz ohne Weltstars aus und waren über die Saison hinweg fast auf Augenhöhe. Dortmund spielte Unentschieden gegen den späteren CL-Sieger Manchester City in der Vorrunde und im alles entscheidenden Meisterschaftsspiel auch nur Unentschieden gegen Mainz.
Dr. Vanessa Wergin liest auch aus solchen Kreuzvergleichen heraus, welche Bedeutung die Mannschaft als Gefüge hat. Wer besser funktioniert, ist erfolgreicher. Paris zeigt schließlich seit Jahren, dass eine Ansammlung von Superstars keine Titelgarantie ist. Antonio Rüdiger ist eine Säule bei Real, İlkay Gündoğan war Kapitän bei ManCity, Marc-André ter Stegen spielt bei Barcelona reihenweise zu null und in unserer Nationalmannschaft sind sie allesamt nur Teil einer fatalen Fehlerkette. Warum?
Vielleicht hat sich das Team nicht gefunden. Vielleicht sind ältere Spieler in Rollen, mit denen sie nicht zufrieden sind. Junge Spieler kommen dazu, man muss sich erst finden.
Aus der Forschung im Bereich Teamkrisen wissen wir, so Vanessa Wergin, dass es durch Niederlagen zu einer Art Teufelskreis kommt und sich die Mannschaft gar nicht mehr selbst herausziehen kann.
Und: Hier seien die Trainer noch machtloser als die Spieler selbst. Und noch eine Beobachtung: Nach dem Tor der Kolumbianer warfen sich Spieler und Ersatzbank auf einen Haufen, es war eine Freude, da zuzuschauen. Verglichen damit lief es bei unseren vergangenen Länderspieltoren (ja, es gab welche) wie bei einer höflichen Gratulationstour zum 70. mit dem Torschützen als Jubilar.
Wo werden die Probleme im Spiel sichtbar?
Wir sehen die Probleme genau dort, wo wir unsere Gegner auch in den vergangenen drei Gruselspielen angeblich dominiert haben. Beim Ballbesitz.
Der eine Innenverteidiger spielt den Ball zu seinem Nebenmann, der spielt einen Spieler außen an, der lässt zurückprallen, dann das gleiche Spiel mit einem Kollegen im Mittelfeld, 30 Sekunden später hat der erste Innenverteidiger wieder den Ball, Raumgewinn: null. Torgefahr: null.
Hier ist die Zielorientierung verloren gegangen, sagt Vanessa Wergin. Weg vom eigentlichen Ziel, ein Tor zu erzielen, zu einer Vermeidungsorientierung. Also man möchte schlicht keine Fehler mehr machen. Das ist der vorherrschende Gedanke in den Köpfen.
Im Kopf stellt sich nicht die Frage, welchen tollen Pass man nach vorne spielen könnte, weil die Angst vorherrscht, der könnte zu lang oder zu kurz geraten. Denn dann gibt es wieder ein negatives Erlebnis, ein Abwinken eines Kollegen, Pfiffe im Publikum und schlechte Laune auf der Bank. Statt vorwärts mit breiter Brust, geht es also mit eingezogenem Kopf hinten rum.
Es wird sicherer gespielt, was dazu führt, dass das Spiel nicht mehr so komplex gemacht werden kann, was dem Gegner in die Karten spielt.
Denn eine Mannschaft, die hinten einfach nur querspielt und null Ambitionen zeigt, dann auch mal den "tödlichen" Pass nach vorne spielen zu wollen, die kann man mit etwas Druck und Körperlichkeit noch weiter verunsichern und plötzlich kommt der Fehlpass und die Unordnung und die Flanke und der Kopfball und es steht 0:1. Und der Gegner kann entspannt auf die nächsten Fehler warten.
Wie kommen wir da wieder raus?
Es wäre sehr hilfreich, wenn wir als Fußballfans ein bisschen in Vorleistung gehen, vielleicht fällt ja dem Fanclub Nationalmannschaft (ja, sowas gibt es) etwas ein. Positiv umdenken bis September! Wir spielen am 9. September in Wolfsburg gegen Japan und am 12. September in Dortmund gegen Frankreich. Wenn da im Vorfeld und im Stadion ein bisschen die Post abgeht, ist schon psychologisch eine bessere Ausgangsposition geschaffen, als vor den drei verkorksten Spielen jetzt.
Und dann müssen es die Teamverantwortlichen schaffen, einen Neustart hinzulegen. Den empfiehlt jedenfalls Frau Dr. Wergin. Es muss ein Team werden, das zusammenpasst. Auf dem Niveau in der Bundesliga und selbst in der zweiten Liga gibt es keine so großen Unterschiede zwischen den Spielern.
Auch die - gefühlt - elf Superstars aus Frankreich können von einer funktionierenden Mannschaft geschlagen werden. Auf diesem Niveau sind der Kopf und die funktionierende Mannschaft oft die spielentscheidenden Faktoren. Das heißt: Der Austausch einzelner Spieler, wie Rudi Völler angekündigt hat, ist zwingend. Aber es kommt eben nicht so sehr darauf an, einfach einen etwas besseren Fußballer als Ersatz zu finden, sondern einen Typen, der besser in die Mannschaft passt. Das mit den elf Freunden ist also gar nicht so falsch gewesen.
Ganz auf null und von vorne anfangen. Spielpause, wirklich durchtauschen, Ausprobieren neuer Konstellationen. Das Thema ist zu stark belastet, sodass man da nicht so einfach wieder rauskommt.
MDR (ifl)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Ramm am Nachmittag | 23. Juni 2023 | 16:40 Uhr
Tom Kizzler vor 47 Wochen
Eine "Mannschaft", die von Staats wegen vornehmlich als bunt zu gelten hat und das zwangsweise nach außen zu tragen hat, hat andere Probleme, als Tore zu schießen. Ich prophezeihe dem "deutschen" Fussball ohne einen grundsätzlichen politischen Wandel wieder hin zur Vernunft erfolglose Zeiten.
SGDHarzer66 vor 47 Wochen
Auch für Gutmenschen gilt: es herrscht Meinungsfreiheit. Sie können sich gern dem Fanclub der "Mannschaft" anschließen, keiner hindert sie mit ihrer "politisch korrekten" Einstellung.
TomTom vor 47 Wochen
Guckt hier eigentlich jemand drauf, wann es strafrechtlich relevant wird? Oder darf hier jeder rassistisch werden? Ich frage auch für Lukas, Sami, Miro, Jérôme und die anderen aus dem 2014er Kader.